MARIVA - allererste Erinnerungen

 

ES-Zeiten - I. Kapitel

  

 

Die Farbe der Kirschen

allererste Erinnerungen Frühjahr 1943 

Der Anfang des Argwohns müssen die Farben gewesen sein, als man sagte, dass der grüne Apfel noch nicht reif, der rote aber zum Reinbeißen sei!

Was sagt aber, dass Farben für alle gleich sind; hat das was man rot nennen muss, für jeden dieselbe Färbung?

Der rote Apfel sah vielleicht für den Nachbarn blau aus, er sagte nur rot dazu, weil man es ihm immer wiederholte. – Vielleicht gibt es eine persönliche Welt, die für jeden einzelnen ein anderes Bunt bietet?

 

Das fragte ES sich und schwor sich, nichts mehr zu glauben, lange bevor ES um des lieben Friedens willen bereit war, IHNEN den Gefallen mit dem Nachplappern zu tun, - denn es waren da Leute, die aßen auch grüne oder gelbe Äpfel. 

Auch die grünen und weißgelben Kirschen waren noch nicht reif, nur die roten sollte man essen.

Das sagte der Vetter vom Lande, ein wenig älter und grösser und durchtriebener.

 

Es stieg in den Baum, pflückte alle erreichbaren reifen Bällchen und kleine Milchzähne zerkauten die ersten Kirschen seines Lebens; der Mund wurde rot und der Saft der überreifen Kugeln kleckerte auf das helle Sommerkleid.

Man sollte ja nur die roten essen, im Inneren dieser Köstlichkeiten stiess die Zunge auf etwas Hartes, Glitschiges, doch alles rutschte dennoch flugs den Gaumen hinunter. Der Vetter vom Lande hatte nichts vom Kerne ausspucken gesagt.

 

Als alle erreichbaren roten Kugeln im Bäuchlein waren, ging ES zur Urgroßmutter zurück, schlief selig ein und wachte bald weinend wieder auf mit ach so schlimmem Bauchweh.

Der listige Vetter hatte seine wahre Freude; diese Freude war aber so verdächtig, dass die Urgroßmutter schnell drohend die Geschichte mit den Kirschkernen erfragte. Dem Kind wurde mit viel Rizinusöl geholfen, und der arglistige Vetter musste genauso viel abscheuliches Öl zur Strafe schlucken. Die Moral war gerettet aber der Streit ging noch ein wenig weiter, - es gab ja im ganzen Hause nur einen „Abort“!

 

Das nächste Mal im Leben, dass es auf den Vetter traf, war über dreißig Jahre später, das ES war längst eine SIE geworden und der Vetter wohnte nicht mehr bei den Kirschen sondern deftig in Sülze in der Lüneburger Heide; aber die Frage mit der persönlichen Zuordnung der Farben und der individuellen Deutung von Lichtreizen sowie der Argwohn im allgemeinen war für SIE lebenslang gültig.

 

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